Praxisfenster Erlebnispädagogik

Im Gespräch

Wie kann Erlebnispädagogik praktisch und konkret im Berufsalltag eingesetzt werden? Weshalb investiert eine Institution wie obvita in erlebnispädagogische Methoden? Was sind die Erfahrungen und Herausforderungen?

Interview mit David Garcia, Bereichsleiter obvita, Wohnen im Jugendalter.

Was ist Dir wichtig an der Erlebnispädagogik?

Grundsätzlich wollen wir mit der Erlebnispädagogik für die von uns begleiteten Jugendlichen ein alters- bzw. zielgruppenadäquates Angebot schaffen. Die erlebnis- und handlungsbezogene Vorgehensweise bietet den Jugendlichen die Möglichkeit, sich nicht nur über eine intellektuelle und gesprächsbezogene Herangehensweise mit ihren bisherigen Sicht- und Handlungsweisen auseinandersetzen. Der dabei geschaffene persönliche Bezug und das emotionale Erleben ermöglichen einen alternativen und vorbehaltsloseren Zugang zu sich selbst und seiner Umwelt. Die Stärkung des Selbstbewusstseins, der Handlungskompetenz und der Kommunikationsfähigkeit sind denn auch einige wesentliche Aspekte die dabei angestrebt werden.

Insofern ist es für uns wichtig, Jugendlichen neue, ungewohnte Erlebnisse zu ermöglichen. Wir sind überzeugt, dass sich viele Jugendliche oder auch junge Erwachsene nach „einfachen“ Erlebnissen sehnen. Heute steht ihnen ein schier endloses und vielfältiges, teils aber auch überforderndes Freizeitangebot zur Verfügung. Die einfachen Dinge gehen dabei verloren: Ein Feuer machen, etwas auf dem Feuer kochen, draussen schlafen, zu Fuss ein Ziel erreichen, im „Flow“ sein, das Zusammensein geniessen. Bei erlebnispädagogischen Projekten können die Jugendlichen dank den gemeinsamen Erlebnissen den inneren Draht zueinander finden und verborgene Ressourcen entdecken und sichtbar machen. Ich bin überzeugt, dass diese Erlebnisse inneren Halt geben, das Selbstvertrauen stärken und in den Alltag übernommen werden kann.

Wie setzt du Erlebnispädagogik in deinem Berufsalltag ein? Gibst du uns einen Einblick in ein konkretes Projekt?

Bisher wurden vorwiegend natursportliche Projekte, wie z.B. Trekkings, durchgeführt. Am jährlich stattfindenden Lehrlingslager werden zwei Tage erlebnispädagogisch gestaltet, wobei das gegenseitige Kennenlernen im Fokus steht. Aber auch kleine Anlässe, wie z.B. gemeinsame Abende, Abschlussfeiern oder Projekttage werden regelmässig mit erlebnispädagogischen Sequenzen aufgepeppt. 

Ein konkretes Projekt, worauf wir stolz sind, fand während den Pfingstfeiertagen 2018 statt. Während einem Abendessen im Wohnen im Jugendalter entstand eine Projektidee. Mehrere Jugendliche setzten sich damals zum Ziel, von St. Gallen nach Zürich zu wandern. Mit Unterstützung der Betreuungspersonen organisierten die Jugendlichen ihr Projekt selbstständig. Während vier Tagen setzten sie diese Idee um. Der Weg sollte möglichst selbstständig, unabhängig und mit reiner Muskelkraft zurückgelegt werden. Zusätzlich wünschten sie sich, während den vier Tagen in der Natur zu leben, am Feuer zu kochen und selber geschützte Schlaf- und Lagerplätze einrichten zu können. Bei diesem Projekt stand das Thema Autonomie im Fokus. Vier der sieben Teilnehmenden erreichten stolz ihr Ziel in Zürich - zwei von ihnen sogar mit einer starken Sehbeeinträchtigung. Allen Teilnehmenden wurde nach diesem Projekt bewusst, wie viel Aufwand und Teamgeist es in der Natur benötigt, um während vier Tagen selbstständig zu leben. Dank hohen Einbezugs der Teilnehmer und einem guten Zusammenhalt in der Gruppe wurde dieses Projekt ein Erfolg und wegweisend für weitere erlebnispädagogische Projekte.

Weshalb investiert deine Institution in die Erlebnispädagogik? Welchen Gewinn sieht sie darin?

obvita bietet Jugendlichen mit Behinderung rund 70 Ausbildungsplätze in 13 verschiedenen Berufen an. Die Förderung und Begleitung während ihrer Ausbildungszeit findet oft auf der kognitiven Ebene statt. Die Lernenden sind während der mehrjährigen Ausbildung im Denken stark gefordert. Dabei müssen sie viele Fachkompetenzen erlangen und Prüfungen bestehen. Wir sehen es als Gewinn, dass nicht nur der Geist, sondern auch der Körper in unsere Begleitung miteinbezogen wird. Der Mensch soll lernen, mit der Tätigkeit und dem Körper eins zu werden, nach dem Leitsatz «Lernen mit Kopf, Hand und Herz». Gerade bei Trekkings erleben die Teilnehmenden - meist am zweiten Tag - oft diesen Handlungsfluss, den man auch als «Flow» bezeichnet. Man denkt nicht mehr gross nach, wann man wohl endlich am Ziel ankommen wird. Es entsteht ein Verschmelzen von Tätigkeit und Bewusstheit. Während diesem «Flow» kommen oft verborgene Ressourcen ans Licht und wir erleben Jugendlichen anders als im Berufsalltag. Gerade diese Beobachtungen sind wertvoll für die weitere Begleitarbeit und Standortbestimmungen. Wir gehen davon aus, dass es den Jugendlichen guttut, während einer gewissen Zeit ihren festgefahrenen Denkschleifen (Arbeit, Schule) zu entgehen und im Körper und in der Situation zu leben.

Welche Herausforderungen erlebst du in der Umsetzung mit deinen Teilnehmenden?

Das Teilnehmen an erlebnispädagogischen Angeboten ist bisher freiwillig, bis auf wenige Ausnahmen wie das Lehrlingslager oder einzelne Projekttage. Es ist eine grosse Herausforderung, den Jugendlichen diese Angebote schmackhaft zu machen und den Zugang zu Naturerfahrungen zu ebnen. Für viele Jugendliche sind solche Erlebnisse etwas ganz Neues. Dafür müssen sie ihre Komfortzone verlassen und dies löst oft Ängste bei ihnen aus. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, die Jugendlichen so früh wie möglich in die Projektgestaltung miteinzubeziehen. Sie sollten sich die Ziele selbständig setzen können und Verantwortung für die Projekte übernehmen. Dadurch begünstigen wir das Verschmelzen von Tätigkeit und Bewusstheit. Eine weitere Herausforderung für uns ist es, die Settings so zu gestalten, dass alle Teilnehmenden mit ihrer eigenen Anstrengung die Aufgaben meistern können.

Gibt es bereits erste Erfolgserlebnisse oder sichtbare Meilensteine? Welche Chancen bietet die Erlebnispädagogik für deine Teilnehmenden?

Vor zwei Jahren haben wir unsere ersten erlebnispädagogischen Projekte durchgeführt. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen regelmässig an unsere Projekte und haben viele Sozial-, Selbst- und Outdoor-Kompetenzen erlangt. Es entstand sogar eine eigene Gruppe, die sich «Nordländers» getauft hat. Diese Erlebnisse werden innerhalb und ausserhalb der Institution erzählt und zeigen eine weitere Arbeitsweise in unserer Organisation. Durch die positive Mund-zu- Mund-Propaganda interessieren sich immer mehr Jugendliche für diese Projekte. Auch solche, die nicht auf der Wohngruppe wohnen. Dies führt zu der Frage, ob solche Angebote auch Jugendlichen ohne Wohnfinanzierung zugänglich gemacht werden sollen. Wir sehen es als Chance, dass Jugendliche sich in solchen Projekten anders erleben können und Lernen nicht nur mit Kopf, sondern mit Hand (Körper) und Herz (Emotion) stattfinden kann.

Was ist dein bisheriger Nutzen des NDS Erlebnispädagogik für dich?

Ich hatte, bevor ich den NDS und den NDK besucht hatte, Naturerlebnisse wenig theoretisch hinterfragt. Mich persönlich hat es schon immer in die Natur gezogen und diese Romantik möchte ich für mich persönlich auch gerne beibehalten. Durch den Besuch des NDS wurde mir aber bewusst, dass kreative Elemente und die systemische Arbeitsweise gut mit Erlebnispädagogik verbunden werden können. Der Naturraum erlebe ich in meiner professionellen Rolle nun anders, ich erkenne neue Möglichkeiten und schätze seine Vieldeutigkeit. Dies eröffnet neue Perspektiven in der Arbeit mit Gruppen, aber auch mit Einzelpersonen. Ich sehe das NDS für mich persönlich als Chance, mich mit relevanten Theorien der Erlebnispädagogik auseinanderzusetzen, die meine Arbeit als Sozialpädagoge besser machen. Zusätzlich profitiere ich vom Erfahrungsaustausch und lerne neue interessante Orte kennen, die sehr inspirierend für zukünftige Projekte sein können.

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